Porträt: «Auch in grossen Mengen kann viel Herzblut stecken»

In Kürze

Corinne Blum leitet die grösste Bäckerei der Schweiz. Wie sie als ETH-Ingenieurin zwischen Ruchbrot und Süssgebäck landete und warum Psychologie in ihrem Job plötzlich wichtig ist.

Corinne Blum, weisser Kittel und Hygienehaube auf dem Kopf, läuft zackig durch die Korridore der grössten Bäckerei des Landes. Ihr Ziel ist die Werkstatt, ein Meeting mit den Leitern der Technik. «Gibt es Störungen an den Maschinen?», fragt sie die Männer. Ihre Termine hält sie gern kurz, am liebsten im Stehen. Schnell ist klar, die Technik ist auf Kurs. Blum macht noch ein paar Spässchen, gratuliert einem Mitarbeiter zum Geburtstag, und schon ist sie wieder unterwegs.
 

Seit vier Jahren leitet die 42-Jährige den Migros-Industriebetrieb, ehemals Jowa, im aargauischen Gränichen. Elf Personen sind Blum direkt unterstellt, für rund 800 Mitarbeitende ist sie verantwortlich. Darunter Bäckerinnen, Lebensmitteltechnologinnen, Mechaniker, Automatiker, Logistikerinnen.

Eine ETH-Maschinenbauingenieurin vermutet man nicht unbedingt zwischen Ruchbrot und Süssgebäck. Wie ist sie hier gelandet? «Nach dem Studium wollte ich einen Job, der Produkt, Mensch und Maschine vereint», sagt Blum. Sie begann vor 15 Jahren als Trainee bei Jowa. Seither hatte sie diverse Positionen in der Migros-Industrie inne, unter anderem Leiterin der Bäckerei in Birsfelden BL mit 120 Angestellten.


Früchte statt Gipfeli im Büro

Zehn Termine sind für heute geplant, jetzt hat sie kurz Zeit für einen Kaffee im Büro. Auf ihrem Pult liegen wider Erwarten keine Gipfeli, sondern Früchte – sie könne ja nicht den ganzen Tag Brot essen, sagt sie. Seit fünf Uhr ist sie wach, seit halb sieben bei der Arbeit. Sie und ihr Mann haben beide ein 80-Prozent-Pensum, teilen sich Haushalt und Betreuung der zwei Kinder, zweieinhalb- und fünfjährig.

Den Grossteil des Tages verbringt Blum vor dem Computer oder in Meetings. Ihr Job ist es, sicherzustellen, «dass der Laden läuft». Der Laden ist riesig. In den Produktionshallen werden Tiefkühlbrot- und -backwaren für alle Migros-Filialen des Landes hergestellt. Im Laden frisch aufgebacken, kommen sie noch warm in die Regale. Zudem befindet sich hier die grösste Konditorei der Schweiz. Viele Projekte laufen parallel, Blum ist entsprechend im engen Austausch mit ihrem Fachpersonal. Sie geht Herausforderungen an und sucht nach Lösungen. Ändert sich die Auftragslage, muss sie reagieren können und umplanen. Auch der Fachkräftemangel ist ein grosses Thema. Aktuell sind in Gränichen 50 Stellen unbesetzt. Natürlich ist die Chefin informiert über die Bewerbungs-prozesse und weiss, wie die Schnuppertage gelaufen sind. Als Maschinenbauingenieurin ist sie weiter verantwortlich für die Produktionsanlagen. Dazu gehören Strategie, Unterhaltsplanung und künftige Investitionen.

 

Werkeln auf dem Bauernhof

Der Morgen vergeht schnell: drei Meetings, Diplomübergabe an Absolventinnen der internen Anlehre samt kurzer Rede, ein Call, eine Viertelstunde Mails beantworten. Blum liebt Effizienz und arbeitet laufend daran, noch besser zu werden. In einer Sitzung sagt sie: «Sagt Stopp, wenn ich zu schnell bin!» Keiner meldet sich, man hat sich wohl an ihr Tempo gewöhnt. Sie liebe diesen Job, vor allem, wenn sie merke, dass sich im Team die Energie vervielfache, man zusammen etwas erreichen könne: «Wow!»


Zwischen den Terminen grüsst sie in die offenen Büros hinein, hält ihren Angestellten die Tür auf und hebt Abfall vom Boden auf, über den andere gestiegen sind. «Man muss Vorbild sein und die Leute gut behandeln, das sind doch auch die Migros-Grundwerte.»


Aufgewachsen ist Blum mit ihrer Familie auf dem Bauernhof des Grossvaters. Ihr Vater war Handwerker, ihre Mutter managte Haushalt und drei Kinder. Ständig durften sie schrauben und werkeln. Eine Regel gab es aber: Wenn du etwas anfängst, dann bring es auch zu Ende. Nach der Matura konnte sie sich nur schwer entscheiden zwischen einem Psychologie- oder Maschinenbaustudium. Als sie in einem Jugend-forscht-Kurs für Mädchen lernte, Roboter zu bauen, war es um sie geschehen. Heute befasst sie sich im Rahmen ihrer Führungsposition auch intensiv mit Psychologie. 

Viel Handarbeit bei Torten 

An diesem Nachmittag macht sie einen Rundgang in der Produktion. Riesenmaschinen kneten, bearbeiten und befördern Tausende Kilogramm Teig. Es ist schwülwarm und laut. Jedes Brot, das die Hallen verlässt, wurde von Mitarbeitenden geformt und geprüft. Vieles laufe automatisch, aber ohne Menschen gehe es nicht. Das Vorurteil, dass Industrieprodukte herzlose Massenware seien, lässt sie nicht gelten: «Auch bei diesen grossen Mengen ist bei uns Herzblut und hohe Qualität drin», sagt Corinne Blum stolz. In der Konditorei produzieren die Mitarbeitenden Hunderte Schwarzwäldertorten, das meiste wird von Hand gemacht. «Wollen Sie mithelfen?», fragt eine Mitarbeiterin. Sie sei leider zu wenig routiniert, so die Chefin. Alle lachen. Erst kürzlich habe sie aber zahlreiche Blätterteigstreifen um Pouletwürste gewickelt. Blum ist es wichtig, den Puls der Angestellten zu spüren. «Ein Chef, der nur redet und nicht zuhören kann, ist ein Schreckensbild», sagt sie. 

Wer so viel Verantwortung trägt, muss mal aus dem Kopf raus. Sie macht das mit Handlettering, einer modernen Art des Schönschreibens. Überall im Büro liegen hübsch beschriftete Blätter. Das entspannt sie. Sie meditiert, macht Atemübungen, spielt Volleyball. Und natürlich geniesst sie die Zeit mit der Familie. Wochenenden verplant sie selten, lässt sich da lieber treiben.

Nach der Torte ist vor der Brotdegustation. Getestet werden beliebte Sorten, heute zweierlei Tessinerbrot und zwei Twister. Fünf Personen stehen um den Tisch, riechen an den Scheiben, beissen ab. Das helle Tessiner sei zu dunkel gebacken, ansonsten gebe es nichts auszusetzen, sind sie sich einig. 

Halb sechs, kurz vor Feierabend. Corinne Blum gähnt. Bevor sie nach Hause geht, muss sie noch etwas besprechen. Scheinbar gibts ein Problem in der Produktion. Sie ist sicher, dass sich eine Lösung finden lässt. «Ich bin halt eine unverbesserliche Optimistin», sagt sie und entschwindet im langen Korridor.

Text: Edita Dizdar
Bilder: Nik Hunger